Spaziergang – eine therapeutische (Un)Möglichkeit?

Zulliger versuchte in der Mitte des vorigen Jahrhunderts mit jugendlichen Fortläufern in Kontakt zu kommen und „lief“ mit ihnen mit. Ausgehend von dieser unorthodoxen und von mir selbst schon oft praktizierten Idee der Kontaktaufnahme und therapeutischen Bündnisarbeit mit Jugendlichen möchten ich hier die Möglichkeiten (und Grenzen) einer ungewöhnlichen aber hilfreichen Arbeit darstellen.

Eine ganze Reihe von Kindern und Jugendlichen sind einer klassischen Analyse nicht zugänglich. Das führt dazu, dass sie verlangen, dass wir mit ihnen etwas Anderes machen – zum Beispiel das, was Hans Zulliger ,,Spaziergangtherapie“ genannt hat:

Mit bestimmten Jugendlichen können Sie nur unaufdringlich kommunizieren, wenn Sie mit ihnen spazieren gehen.

Das hat den Effekt, dass man sein Gegenüber nicht so direkt anschaut und trotzdem eine Verbindung mit ihm hat. Der öst. Psychoanalytiker August Aichhorn hat sich in Wien mit bestimmten Jugendlichen zu festen Terminen in der Straßenbahn getroffen. Auch das ist eine Gelegenheit, sich nicht zu nahe zu sein und sich trotzdem zu treffen. Auf diese Weise kommt ein Kontakt zustande. Und indem der Jugendliche den scheinbar „lästigen“ Erwachsenen verändert, verwandelt er sich selbst.
Wichtig ist also: Ich kann Psychoanalyse in einem klassischen Rahmen machen, ich kann aber auch zu jemand an seinen ,,sozialen Ort“ gehen – ein von Siegfried Bernfeld (öst. Pädagoge und Psychoanalytiker, 1892-1953) geprägter Begriff. Das heißt also, ich suche ihn dort auf, wo er „nach mir fragt“ und wo er in der Lage ist, eine Beziehung zu mir als Therapeut einzugehen. Und natürlich kommen auch dort – wie in jeder menschlichen Beziehung – Übertragungen und Gegenübertragungen und Widerstände zustande, die sich wieder deuten und bearbeiten lassen.

Die therapeutische Beziehung ist ja auch immer eine gegenseitige Beziehung, in die sowohl der Klient etwas Bearbeitbares aus seiner Lebensgeschichte hineinträgt, überträgt, wie auch der Therapeut seine unbewussten Wünsche, Ängste, Probleme mit einbringt. Wenn es nicht zu einer Übertragung kommt, kann auch nichts durchgearbeitet werden. Dazu müssen Menschen da sein, die in der Lage sind, die „verrückte Welt“ ihres Klienten mit diesem zu teilen und dabei auch zu riskieren, dass ihre eigene Welt nach dieser gemeinsamen Arbeit nicht mehr dieselbe ist. Ich glaube, dass man auch durch seine Klienten als Therapeut verändert wird. Es wäre schlimm, wenn das nicht so wäre.

Für das gedankliche Konzept therapeutischer Arbeit mit einer empathischen Einstellung, die dem Jugendlichen einen emotionalen Resonanzraum zur Verfügung stellt, hat sich die Idee der Spaziergangstherapie sehr bewährt. Übertragung und Gegenübertragung finden in der „räumlichen Offenheit“ eine Entfaltungsmöglichkeit und begünstigen das Entstehen eines inneren Klang- und Echoraumes.

Oft, am Ende therapeutischer Arbeit dieser Art, denke ich, wir wären wohl nicht da, wo wir sind, wenn wir in der Praxis (und ihrer Begrenztheit?) geblieben wären. Indem wir die (sichere?) Struktur und Überschaubarkeit eines Therapiezimmers verlassen haben, war es uns möglich, die Endlichkeit diagnostischer und therapeutischer Gedanken hinter uns zu lassen und auf neuen Wegen neue Lebensperspektiven zu finden.

Ein Patient hat mal formuliert: „ich freue mich auf die ‚Spaziergänge‘die ich für eine ziemlich gute „(Un-)Möglichkeit“ halte, nur so nebenbei…“

Fs folgt