Seit mehreren Wochen stürzen Meldungen auf uns ein, in Schrecken und Unvorstellbarkeit ansteigend, begleitet von den Ängsten vieler Menschen über das, was ist und möglicherweise noch kommen wird. Von ‚Schlamperei‘ bis zu ‚Strafe Gottes‘, von ‚Grippe‘ bis zu ‚lebensbedrohliche Krankheit‘ reichen die Erklärungen. Der Ruf nach einer starken Hand wird laut.
Eingesperrt! Ausgangsbeschränkung! Kontaktverbot zu Freunden, die man in dieser Not vielleicht besonders braucht! – Wahrscheinlich der größte Teil der deutschen Bevölkerung hat so etwas noch nie erlebt, das gab‘s in fernen Diktaturen oder ähnlichen Staaten, aber doch nicht bei uns, wir sind doch eine freiheitliche Demokratie. Und plötzlich ist das alles größtenteils einfach weg!
Wie soll man sich retten? Stecken wir nicht schon knöcheltief in einem Sumpf, dem wir nicht mehr entrinnen können? Das Bild der „Sümpfe der Traurigkeit“ aus Michael Endes Roman „Unendliche Geschichte“ drängt sich mir auf… Je „trauriger“ das Pferd wird, desto tiefer versinkt es, alles verzweifelte Bitten und Rufen Atrejus verhindert nicht dessen Untergang. Andere zu überzeugen versuchen, bringt offensichtlich nicht viel. Eigene Entscheidung ist gefragt!
Bertrand Russell schreibt sinngemäß schon 1946: „Die Frage heute ist, wie man die Menschheit überreden kann, in ihr eigenes Überleben einzuwilligen.“ (1) Und genau dieses Empfinden beschleicht mich zusehends. Umgeben von Todesstatistikern und Katastrophen und Sensationen herbeiredenden Medienvertretern, sich um den richtigen Weg streitenden Politikern und plötzlich auftauchenden Helden und Heldinnen ist es wahrlich nicht ganz einfach, „to persuade mankind that human life is worth preserving“, wie Russell an anderer Stelle schreibt (2).
Ja! die Auswirkungen dieser Pandemie sind z.T. schlimm!
Ja! es sterben Menschen an dieser Krankheit.
Und ja! möglicherweise ist es sinnvoll, wirtschaftliches, wissenschaftliches und gesellschaftliches Leben herunterzufahren!
Nicht nur einem Virus zuliebe, sondern grundsätzlich! –
Aber hört deswegen unser Leben auf? Müssen wir Angst schüren mit Hilfe von Nachrichten und Gesetzesänderungen (so schnell…das hätte man dem sonst so trägen Staats-Apparat gar nicht zugetraut)? Denn sind nicht andererseits plötzlich Dinge möglich, die wir nie erwartet oder gar für realisierbar gehalten hätten? Bringt nicht dieses „Unglück“ etwas in unser Leben, das es wieder sozialer, lebenswerter macht? Während sich die einen um den Präsidenten des RKI scharen, der, wie ich kürzlich las, „wie Gevatter Tod daherkommt“ und seine Schreckenszahlen verbreitet (deren Relevanz so fragwürdig ist wie eine Umfrage zur Wetterentwicklung), kommen die anderen und genießen die Vorteile, die dieses Geschehen ihnen bringt. Und wenn diese dann noch aufpassen, dass die (notwendigen?) Einschränkungen grundgesetzlicher Freiheiten nach spätestens vier Wochen wieder verschwinden… dann wäre der Gewinn aus dem Unglück maximal!
Solange wir nicht Krankheit, Virologie, Agieren über den Menschen stellen!
Böse? Unmenschlich? Gleichgültig gegenüber dem Leid anderer? – Nein, gewiss nicht! – Aber auch nicht so pessimistisch in Untergangsszenarien wühlend!
Hören wir auf Camus, der sagt:
„Das Leben verlieren ist keine große Sache; aber zuschauen, wie der Sinn des Lebens aufgelöst wird, das ist unerträglich!“ ?
Schauen wir also dieser Pandemie zu, wie sie „alles auflöst“, ohne dass wir die Gelegenheit für Neues ergreifen?
Dann ist es im Moment wirklich unerträglich, ängstigend, ohne Hoffnung…
Aber nur dann…
Und dann sind da die Kids, die kleinen, die größeren und auch die Familien. Über all dem Virenbekämpfungsjubel geraten sie irgendwie aus dem Blick. Sogar die Umwelt hat sich dank FfF-Lobby wieder zu Wort gemeldet, aber die anderen? Wird nicht immer wieder mal gesagt, das Virus lege Vieles in unserer Gesellschaft offen, besonders die Schwächen! Und dass Kinder und Familien keine Lobby haben, das ist jetzt wieder schmerzhaft deutlich geworden.
Der Pädagoge Hartmut v. Hentig schreibt (3):
“Pädagogik ist eine große Verführung für alle Gesellschaften, ihre Probleme dort zu beseitigen, wo die Erwachsenen sich am wenigsten ändern müssen: in der Belehrung und Abrichtung ihrer Kinder.“
Ist es das, was uns das Virus lehrt? Mehr als alle medizinischen und virologischen Erkenntnisse? Dass wir immer noch mit Menschen umgehen, besonders mit den jungen, den schwachen, als ob wir sie nicht brauchen und nur lästig ihr Dasein zu verwalten haben?
Und dazu ruft uns Camus, der ja auch schon über die Pest geschrieben hat, zu (4):
„Die einzige Art, gegen die Pest zu kämpfen, ist die Ehrlichkeit.“
Während ich das alles schreibe, die Gedanken, die von verschiedenen Richtungen, Menschen, Ideologien auf mich einstürmen,
…während die er- und gelebten Jahre es mir nicht so ganz leicht machen, an die Veränderung und Lernfähigkeit der Menschen zu glauben,
…während maskentragende Mitmenschen immer noch nicht begriffen haben, worum es denn eigentlich geht,
…während all dem fällt mir ein Satz von Uwe Timm in „Ikarien“ ein:
„Für die Gefühle gelten nicht die vom Verstand gemachten Vorschriften. Die Logik lässt uns in unseren Wünschen nicht wählen. Sie ist der Terror des Verstandes gegen unsere Empfindungen, denn sie sind unsere gelebte Wahrheit. Sie sind die Boten unserer Freiheit.“
Oktober 2020, die „zweite Welle“ kommt!
Wie konnten wir annehmen, dass wir so schnell davonkommen würden?
Viel Hin und Her, viel Ja und Nein, viel Unentschlossene Entschlossenheit, kurz: ziemlich chaotisch und dazwischen die „Stimme der Vernunft“, die uns zu Beschränkungen anhält.
Und? Haben wir gelernt und können jetzt besser damit umgehen?
Aber warum führen unsere Entscheidungsträger mit dieser Pandemie Wahlkampf statt sich damit auseinanderzusetzen? (Empfehlung als „taffer“ Kämpfer!?)
Warum wird immer nur davon gesprochen, dass dieser Virus unser Leben verändert, dann aber läuft alles weiter wie bisher? (Veränderung ist gefährlich?!)
Warum haben sich die verschiedenen Entscheidungsträger nicht frühzeitig überlegt, wie mit einem erneuten Anstieg der Infektionen umzugehen bzw wie dem vorzubeugen ist? Warum war im Sommer nicht Zeit, sich damit zu beschäftigen, Schule neu zu denken, unter diesen und ähnlichen, in der Zukunft wohl öfter auftretenden Veränderungen? Warum ist auf der Infektionskarte seit Wochen der östliche Teil nur grau und der westliche und südliche meist dunkelrot?
Also wirklich: Schluß mit dem Gejammer und tatsächlich die Chance nutzen! Keinen Wahlkampf führen, sondern anders denken, andere Wege.
Unverändert ahnungs- und hilflos stolpern wir jetzt in die „zweite Welle“, alleingelassen von denen, die etwas verändern könnten, aber nur Gesetzesverschärfungen und (hilflose?) Aufrufe an das Volk anbieten. Angst – und in deren Gefolge natürlich zunehmende Aggression – treffen uns, kopfschüttelnd wundert man sich über die Jugend… – Dass Politiker am liebsten das Volk, weil lästig, abschaffen würden, ist hinlänglich bekannt. Dass sie schamlos in dieser Situation auf den Gewinn von Stimmen, Einfluß, Macht schielen, ist schlimm. Dass ihnen die Menschen, besonders junge Menschen – die vielbeschworene Zukunft unseres Landes – egal, völlig egal sind, das ist ein Skandal!
Warum eigentlich lassen wir uns das alles einfach so gefallen?
Zitate:
(1) Damals aus anderem Anlass, aber gerade jetzt sehr aktuell: im Original: „the difficulty is to persuade the human race to acquiesce in its own survival.“ in Russell, „The Atomic Bomb..“, S. 21
(2) Russell, „The Duty of…“, S. 18
(3) Hentig, Mein Leben, Bd II, S. 554
(4) Camus, Pest; S. 151
Bibliographie: