„…ist immer schön mal nicht die Gedanken alleine mit sich rumzutragen.“ (Jack)
Jack, ein zum Zeitpunkt unseres Kennenlernens 14;6jähriger Jugendlicher, fasziniert mich und ich möchte von ihm erzählen:
Jack hat einmal seine Situation so beschrieben: „Viele schwimmen mit dem Fluß, einige schwimmen gegen den Fluß, ich steh im Wald und suche den Fluß, aber ich gehe lieber – und die Anderen denken doch tatsächlich, dass ich die Absonderheit bin…“
Er ist einer von den Kindern und Jugendlichen, die scheinbar „aus der Welt gefallen“ sind. In einem Telepolis-Artikel heißt es über sie: „Seit langem schon leben Außerirdische auf dieser Erde, und gegenwärtig treffen sie Vorbereitungen, die Macht zu übernehmen. Sie sind eher bleich als grün und ihre Antennen bleiben für die Anderen meist unsichtbar. Oft werden sie, wenn sie aus ihren Höhlen kommen, als unbeholfen verlacht. Obwohl ein paar von ihnen Köpfe auf den Schultern tragen, die das Leben auf der Erde vollkommen verändert haben und noch mehr verändern werden:
William Blake, der die Schönheit der Welt in einem Sandkorn entdecken konnte, Ludwig Wittgenstein, der mit zehn Jahren eine Nähmaschine baute und über den seine Mitschüler sagten, er sei „wie aus einer anderen Welt herbeigeschneit“, Albert Einstein, der sich selbst als „einsamen Besucher“ auf der Erde bezeichnete, der ebenfalls nobelpreisgeschmückte John Nash, Vincent van Gogh, Glenn Gould, Isaac Newton, Emily Dickinson, Paul Klee, Wassily Kandinsky, Anton Bruckner, Bela Bartok, Steven Spielberg, um nur einige zu nennen und nicht zuletzt Bill Gates gehören sie alle einer besonderen Spezies an, einer Spezies mit Eigenheiten.“
Es geht nicht darum, eine diagnostische Kategorie für Jack zu finden – auch der Leser versuche es erst gar nicht! -, es geht darum, zu verstehen. Nicht mehr und nicht weniger.
Ich kenne Jack jetzt seit mehreren Jahren und den wirklichen Kern in ihm und dessen schillernde und matte Stellen zu finden hat zugegebenermaßen einige Zeit gedauert. Wie gut wir Menschen doch lernen können, unser wahres Ich, unseren Kern zu verstecken. Jack hat dazu eine Beispielgeschichte geschrieben, die ich hier zitieren darf:
„Es gab einmal im fernen Osten eine kleine Giraffe. Sie war sehr allein. Sie lebte nämlich in einer Parallelwelt in der es außer ihr gar keine Giraffen gab. Gleichzeitig existierte eine kleine Ente. Auch sie war sehr traurig da sie die einzige ihrer art war. Eines Tages trafen sich die beiden. Die Freude war riesengroß. Da gab es jemanden der da war, der einfach da war. Doch mit der Freude kam auch die Angst. Die angst dieses Gefühl, dieses herrliche Gefühl wieder zu verlieren. Die angst ist ein übler Zeitgenosse. Er lässt einen dinge tun die man später bereut. Und genau aus dieser angst heraus begannen die beiden Tiere sich zu verstellen. Die Giraffe fing plötzlich an zu quaken. Es hörte sich schrecklich an. und die Ente lief zu ihrem Teich und baute Schilf zu einem langen hals zusammen. Sie sah fürchterlich aus. Doch trotz allem trafen sich die beiden Tiere jeden tag. Die Ente hörte das schreckliche quaken und die Giraffe sah den fürchterlichen hals. Doch sie beide hielten den mund. Die dachten: „oh nein vielleicht verschrecke ich den anderen ja wenn ich ihm sage wie grauenhaft sich das anhört und aussieht.“ Und so ging das komische treiben weiter. Als die Giraffe ein Kind gebar, da schickte sie sich an, ihm gleich das quaken zu lehren damit ihr geliebtes Kind nie allein sein muss. Und die Ente tat das gleiche mit dem ihrem. Und so klang über Generationen hinweg das quaken immer besser und der hals immer echter. Aber was trotz allem schein genauso blieb wie es war, war das die Enten immer noch Enten warn. Und die Giraffen immer noch Giraffen. Die Schilfhälse waren immer noch aus Schilf, und das quaken war immer noch nur gespielt. Aber was war nun passiert? Sie wussten es nicht mehr. Sie hatten vergessen wer sie waren.
Es gab da aber auch ein kleines Entenkind. Seine Mutter hatte sich große mühe gegeben ihm alles recht zumachen. Sie wollte nur das beste für den kleinen. Sie hatte ihm den schönsten Giraffenhals aus der ganzen Entennachbarschaft gebastelt. Und viele Jahre ging alles gut. Das Kind wuchs und gedieh und hatte viele Freunde. Es rannte mit seinem Giraffenhals durch die Gegend und lachte. Doch das blieb nicht immer so. Als es und die anderen Enten Kinder waren, hatte man es nie bemerkt, weil da noch alle Hälse etwas locker saßen und alle Giraffenkinder noch ein bisschen schrecklich quakten. Aber normalerweise legte sich das nach ein paar Jahren und sie waren alle gleich. Doch nicht so bei diesem kleinen Entenbaby. Es blieb anders. Es sah mit an wie alle anderen größer wurden und dazu lernten. Alle außer ihm. Und dann ganz plötzlich war es allein mit seinen Gedanken. Und es fragte sich was es falsch gemacht hatte. Warum es anders war. Warum es allein war. Und es fing an sich zu verstellen. Mehr als alle anderen, mehr als nur einen Hals aufsetzen. Es wollte sich ändern, Normal sein. Es hat eine lange zeit gedauert bis es bemerkt hat, dass es nicht falsch ist, anders zu sein. Es ist nichts abwegiges daran anders zu sein. Doch das Problem war nicht, dass das kleine Entchen das verstand sondern, dass die anderen das verstanden. Die anderen mit ihren albernen Hälsen und komischen quaken denken doch tatsächlich, dass das kleine Entchen die Absonderheit wäre.“
Ich denke, ich muss das nicht erläutern, es ist verständlich aus sich selbst heraus.
Vielleicht erkennt Jack, dass er kein „depressiver Psycho“ ist, sondern nur etwas anders als mancher „Normalo“. Ein „Anderssein“, das zwar einige Schwierigkeiten mit sich bringt, aber auch soviel Potential, soviele Fähigkeiten, soviel Großartiges, dass Andere eigentlich nur neidisch sein können. Und dass er nicht hoffnungslos ein hilfloser „Sozialkrüppel“ ist/sein wird, sondern die Fähigkeiten eines großartigen Menschen nutzen kann.
Aber ich denke, er spürt auch immer wieder diesen faden Beigeschmack, dieses „ist ja ganz schön, und was bringt mir das jetzt?“ Und ich kann imme nur appellieren, Vertrauen zu versuchen.
Aber was verlange ich da?
Und was für eine Anstrengungsleistung vollbringt dieser Jugendliche!
Eigene Erfahrungen ermöglichen mir eine Identifikation mit meinen jungen Klienten und ein Einfühlen in ihre Probleme. Andererseits aber weiß ich auch um gesellschaftliche und soziale Anforderungen, Kompromisse und Anpassungen, die (zumindest in jungen Jahren – leider) erforderlich sind, um ein halbwegs befriedigendes Leben zu führen, wenn man nicht auf immer in kanadischen Wäldern untertauchen will.
Gilt es also, einen Drahtseilakt zustande zu bringen?
Jack und ich haben – aus einer Notsituation geboren – eine besondere Form der gemeinsamen Arbeit gefunden. Wir treffen uns einmal/Woche zu einem „Spaziergang“, bei dem wir die anstehenden Fragen, Gedanken, Ideen, Pläne … diskutieren, verwerfen, neu aufgreifen und festklopfen… um sie eine Woche später wieder neu zu ordnen.
Sowenig das an therapeutische Arbeit erinnern mag, sosehr ist es doch gerade das! Niemals – und dieser Ansicht sind wir beide! – wären wir da, wo wir sind, wären wir im „Elfenbeinturm Praxis“ sitzen geblieben.
Und er wäre auch ohne unsere unorthodoxe Arbeit er, aber Jack hätte – wie sein Vater einmal bemerkt hat – nie das Licht der Welt und den Zugang zu sich selbst gefunden!
Ich bin der festen Überzeugung – und nach 30 Jahren beruflicher Tätigkeit kann ich das sagen -, dass unser doch recht starres „Psycho-mach-heile-System“ eine Flexibilisierung besonders in der Arbeit mit jungen Menschen braucht. Dies ist nicht die erste Therapie, die auf diese Weise abläuft. Und nicht jede kann so ablaufen. Hier war es DER Weg!
In einer mail schreibt Jack einmal: „…bis zum nächsten Spaziergang, den ich für eine ziemlich gute „(Un-)Möglichkeit“ halte, nur so nebenbei…“
Viel ist geschehen, besonders im Hinblick auf Jacks persönliche Entwicklung. Würde ich es kurz formulieren wollen, würde ich wohl sagen:
…er wird immer mehr der, der er ist!
Sicher… noch viel an Entwicklung liegt vor ihm – aber bei welchem (jungen) Menschen wär das nicht so. Es geht jetzt wohl weniger um Sich-Finden, um Veränderung, sondern eher um akzeptieren, annehmen: „Auch wenn ich weiß, dass ich anders bin, bin ich noch nicht in der Lage mich komplett so zu akzeptieren wie ich bin.“
„It’s not easy to be me“- dieser Satz wird ihn wohl immer begleiten, begleiten in eine Welt, die er immer besser versteht und die ihn vielleicht auch immer besser versteht.
Im Wintersemester 2017 hat Jack ein Medizinstudium begonnen – neben ganz vielen Plänen, Ideen, Phantasien, die er noch verwirklichen möchte – und die wir immer wieder mal diskutieren…
Im Herbst 2018 haben wir eine Broschüre mit Gesprächen („Gespräche mit Jack„, ein Versuch zu verstehen…) fertig gestellt, Mitte 2019 ist in der KJP (182, 50. Jg., Heft 2/2019, S. 249-275) ein Fachartikel zum Thema Asperger von uns erschienen.
Wenn es die gegenseitige Zeit zulässt, werden wir uns sicher immer wieder mal treffen, an der Isar entlang gehen und plaudern, philosophieren, versuchen, uns und die Welt zu verstehen…
…und das solange, bis das Leben eigene Vorstellungen entwickelt…
I do because I can. –
I can because I want. –
I want because you told me I couldn’t!